01.12.2019 | HeimatGenuss : Eröffnung

 

Ausstellung Stadtmuseum Halle

 

Geschichten, die fehlen

 

Von Menschen mit Beeinträchtigungen
Sonderausstellung vom 29.11.2019-10.05.2020

 

Von ihnen wird nur selten erzählt. Und noch seltener werden solche Erzählungen auch festgehalten. Es geht um Menschen, die mit ihren körperlichen oder geistigen oder seelischen Besonderheiten anders sind als die Mehrheit der Gesellschaft. Dass das Stadtmuseum Halle nun solche Geschichten, die fehlen auch erzählen will, ist ein Novum in Deutschland. Diese Sonderausstellung vereint dabei die historische Spurensuche mit dem aktuellen Erleben. Eine Herausforderung für Museumsmacher, denn sonst üppig sprudelnde stadtgeschichtliche Quellen geben bei diesem Thema Daten und Fakten auf den ersten Blick nur als Rinnsal preis.

 

Die gut 50 Geschichten sollen sich den Besucherinnen und Besuchern ohne Barrieren erschließen. Dabei ist nicht allein ein rollstuhlgerechter Zugang gemeint, hebt Museums-Chefin Jane Unger hervor. „Der gehört längst in unserem Haus zum Inventar. Wir haben aber diesmal auch die inhaltliche und gestalterische Aufbereitung der Museumsobjekte konsequent in den Dienst beeinträchtigter Menschen gestellt.“

 

Dong bu dong TafelDas fällt schon beim Betreten der Sonderausstellung ins Auge. Die Architektur mit ihren Tischen und Tafeln endet schon in rund 1,50 Meter. Ideale Blick-Verhältnisse aus der Rollstuhlperspektive. Die Texte sind sowohl optisch, als auch inhaltlich gut lesbar. Dafür sorgen Platzierung, Schriftgrößen und die Verwendung der Leichten Sprache. Viele Objekte können auch ertastet werden, Hörführungen mittels Audioguide unterstützen den Zugang für blinde und sehbehinderte Menschen. Zudem laufen die Videoclips an den Multimediastationen nicht nur mit Untertiteln zum Mitlesen, sondern auch in Gebärdensprache. So wurden beste Bedingungen geschaffen für all solche Menschen, deren Geschichten hier erzählt werden.

 

Die Geschichten, die fehlen werden in der ganz speziellen Handschrift des Stadtmuseums Halle erzählt, also objekt- und personenbezogen. In der historischen Abteilung ist da beispielsweise von der gehörlosen Auguste Ecke die Rede. Die hat  den Lehrer Albert Klotz 1835 bewogen, eine „Taubstummenanstalt“ in Halle zu gründen. Der hallesche Arzt Johann Christian Reil hat den Begriff Psychiatrie als Heilmethode in die Medizin eingebracht und auch spezielle Heilstätten angeregt. Bislang wurden geistig und psychisch beeinträchtigte Menschen oft in Zuchthäusern gemeinsam mit Strafgefangenen verwahrt. 1844 öffnete in Nietleben als erste derartige Einrichtung in der Provinz Sachsen eine Pflege- und Heilstätte.  

 

Am Anfang hatten wir nur einzelne Fäden in der Hand,  konnten nur wenige Objekte unserer eigenen Sammlung dem Thema zuordnen, kannten kaum Biografien. Fast zwei Jahre später präsentieren wir in den Geschichten von früher 90 Objekte, haben eine Reihe von Lebensläufen recherchiert und ermöglichen damit einen erweiterten und überraschenden Blick auf die Stadtgesellschaft,“, beschreibt Kuratorin Susanne Feldmann ihre Arbeit am  historischen Ausstellungsteil.  

 

Gruppe mit WillamowskiAuch die Gegenwart liefert ihre Geschichten nicht auf dem Silbertablett, nach ihnen muss ebenfalls intensiv gefahndet werden. Das Stadtmuseum Halle hat deshalb im Frühjahr öffentlich und über Behindertenverbände zur Beteiligung aufgerufen. „Dort haben wir offene Türen eingerannt“, freut sich Elke Arnold. Sie betreut die Geschichten von heute „Gehofft hatten wir auf vielleicht zehn solcher erzählenden Objekte, am Ende sind es 35 geworden.“ (Foto: Uwe Willamowski erzählt seine Geschichte. v.l. die Kuratorinnen Susanne Feldmann und Elke Arnold sowie Jane Unger, Direktorin Stadtmuseum Halle. Bildautor: Thomas Ziegler)

 

Auch hier geht es weniger um einzelne Schicksale, sondern um den eigenen Weg, mit den Beeinträchtigungen zu leben. Das kann zum Beispiel ein bunter Speichenschutz für einen Rollstuhl sein. Den hat Annett Melzer beigesteuert. Die 50jährige Hallenserin gründete aus Begeisterung zur Musik eine Tanzgruppe, bei der sie auch im Rollstuhl Spaß haben und ihr Taktgefühl ausleben kann. Bewegung, Sport und Ehrgeiz gehören bei Menschen mit Beeinträchtigung eben auch zum Alltag. Im Stadtmuseum belegen das  zudem Schneeschuhe und eine Goldmedaille. Die hat sich ein Männer-Quartett verdient. Das arbeitet in einer Behindertenwerkstatt, lebt in einer Wohngemeinschaft zusammen und trainiert auch gemeinsam. Mit Erfolg, wie diese Medaille belegt. Und da ist auch noch die Punktschriftschreibmaschine von Jennifer Sonntag. Ohne eigenes Augenlicht baut sie als Autorin und Sozialpädagogin segensreiche Brücken zwischen sehenden und blinden Menschen. Auf dieser Maschine schreibt sie die Stichwortkarten für ihre Fernsehmoderationen.

 

Beide Ausstellungsbereiche verbindet ein Areal für weitere Informationen über Inklusion. Zudem bietet sich in den nächsten gut fünf Monaten hier Raum für Begegnungen und Veranstaltungen, vom Tanz-Workshop im Rollstuhl über asiatische Entspannungsübungen bis zu Filmvorführungen und Lesungen.

 

Partner der Ausstellung ist der Allgemeine Behindertenverband in Halle e.V. mit seinem Vorsitzenden Uwe Willamowski. Die Schirmherrschaft hat Marcus Graubner übernommen, Vorsitzender des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland e.V.

 

Der Ausstellungsteil Geschichten von heute entstand mit Menschen aus Halle im Rahmen des Projektes „Geschichten, die fehlen“, gefördert im Fonds Stadtgefährten der Kulturstiftung des Bundes. Geschichten von früher wurde gefördert durch das Land Sachsen-Anhalt.

 

Wussten Sie, dass …


… die Siebziger-Jahre-Box für Musikkassetten, an die Sie sich vielleicht auch noch erinnern, von blinden Menschen in Halle montiert wurde?

… 1957 in Halle innerhalb nur weniger Tage die Selbstorganisationen sowohl für blinde, als auch  für gehörlose Menschen in der DDR gegründet wurden?

… die drei Tötungsärzte in der ersten deutschen Tötungsanstalt Grafeneck, wo im Jahr 1940 etwa 10.000 beeinträchtigte Menschen systematisch ermordet wurden, aus Halle kamen?

… zwischen 1941 bis 1944 auch beeinträchtigte KZ-Häftlinge wie der hallesche Jude Adolf Goldberg, der aus dem Ersten Weltkrieg eine Kriegsbeschädigung davon getragen hatte, systematisch ermordet wurden?

… 1927 in der Stadt Halle über 50 Fälle von Kinderlähmung registriert wurden?

… am 12. Januar 1919 über 1.000 Kriegsbeschädigte in Halle demonstrierten, weil sie mehr Unterstützung forderten und weil sie sich vom Oberbürgermeister wie vom Vorsitzenden des Arbeiterrats herabgewürdigt fühlten?

… in Halle 1914 eine der ersten Einrichtungen für die berufliche Ausbildung gehörloser Mädchen in Preußen und in Deutschland eröffnet wurde?

… es 1909 in Halle vier Selbstorganisationen von gehörlosen Menschen gab?

… die Heil- und Pflegeanstalt Nietleben bei ihrer Eröffnung 1844 eine der modernsten und größten Einrichtungen für psychisch beeinträchtigte Menschen in Deutschland war?

… 1851 in der Heil- und Pflegeanstalt Nietleben ein Mann eingeliefert wurde, der versucht hatte den preußischen König zu töten?

… die Begegnung mit dem gehörlosen Mädchen Auguste Ecke den Lehrer Albert Klotz zur Gründung der sogenannten Taubstummenanstalt1 1835 bewog?